Die neuen Varianten der Street-Art -
Affichements, Sticker, Cutouts/Outcuts - Norbert Siegl im Gespräch mit einer
Redakteurin des SZ-Magazins (Nr.35, 27.08.04):
SZ-Magazin: Was sind das für Papierbildchen,
die seit ein, zwei Jahren auf Mauern, Wänden und Stromkästen
kleben? Graffiti ähneln sie nicht besonders.
Norbert Siegl: Das ist eine neue Form der Straßenkunst,
die sich seit kurzem entwickelt: meist junge Künstler fertigen zu
Hause Zeichnungen an, kopieren sie 20, 30 Mal als Kleinauflage,
schneiden sie aus und kleben sie mit Tapetenkleister an Hauswände
und Mauern - also klassische Affichements - wobei die Größe
stark variiert und mehrere Quadratmeter erreichen kann. Werden die
Bilder speziell zugeschnitten nennen wir das »Cutout«. Eine andere
Variante dieser Straßenkunst sind Bilder und Zeichnungen, die auf
schon existierende Aufkleber gesprayt, gedruckt oder gemalt,
gezeichnet werden: die Sticker. Immer häufiger
sieht man zum Beispiel auf Stromkästen und Verkehrsmasten die Päckchenaufkleber
der deutschen - und österreichischen Post mit Bildern oder Tags
darauf.
Wer hat damit angefangen?
Graffiti-Sprayer, Tagger, verbreiten
ihren Schriftzug, ihr »Tag«, um sich selber bekannt
zu machen. Dabei laufen sie Gefahr, erwischt und bestraft zu
werden, einige sind ja auch deswegen mit riesigen
Schadensforderungen konfrontiert und /oder saßen lange Zeit im
Gefängnis. Einige Sprayer kamen auf die Idee, ihr Tag auf
Adressetiketten oder Paketband zu schreiben und und die Gefahr
einer Verhaftung damit zu minimieren. Eine der ersten waren z.B.
TOWER aus Berlin, KERAMIK aus Wien. Das haben viele nachgemacht
und zusätzlich Zeichnungen, Styles und Bilder darauf gemalt. Die
Aufkleber der Post bieten sich dafür an, weil sie gratis sind und
gut kleben. Die Cutouts sind meist aufwändiger als die bemalten
Sticker, sie haben ihren Ursprung in der Pochoir-Bewegung, der
Schablonenkunst: Einige Graffiti-Künstler benutzten Schablonen,
um ihre Bilder schneller an die Wand sprühen zu können. Wenn sie
ihr Werk genügend oft gesprüht hatten, klebten sie zum Abschluss
die feuchte Schablone an die Wand...
In welchen Städten sieht man die Klebekunst?
In allen westlichen europäischen Großstädten,
in Deutschland besonders in Berlin, München, Hamburg, Leipzig und
Frankfurt.
Aufgeklebte Bilder lassen sich schneller
entfernen als aufgesprühte. Klopfen sich die Polizisten der Großstädte
nun auf die Schulter, weil sie sich gegen die Sprayer durchgesetzt
haben?
Natürlich hängt diese Entwicklung auch mit der
Jagd auf Graffitisprayer zusammen und mit den hohen Strafen für
Sachbeschädigung. Die Klebekunst, das Affichieren der Werke scheint ein guter Kompromiss
zwischen Behörden und Künstlern zu sein: Den Klebekünstlern
wird - zumindest bisher - noch keine Sachbeschädigung vorgeworfen. Aufkleber sind in
unserer Gesellschaft allgemein als Medium akzeptiert, sie werden von
Firmen, politischen Parteien, Naturschutzorganisationen. ..., hergestellt.
Niemand denkt, dass ein Aufkleber etwas beschädigt. Dieses Gefühl
hat man auch bei anderen aufgeklebten Dingen, beim Plakat genauso
wie bei einem Cutout. Juristisch betrachtet wird so genanntes
"wildes Plakatieren" in Österreich als Verwaltungsdelikt geahndet.
Die Einschätzung des Bonner Oberstaatsanwalts Apostels geht in
dieselbe Richtung: „Eine Sachbeschädigung muss eine Substanzverletzung der beschädigten Sache nach sich ziehen. Bei einem
Graffito ist ein stark erhöhter Reinigungsaufwand zu betreiben.“ Auf die Paketaufkleber trifft dies nicht zu. Derartige
"Schandtaten" sollten sich im Bereich einer Ordnungswidrigkeit bewegen.
Wie reagieren Hausbesitzer, die ein Cutout auf
ihrer Hauswand finden?
Natürlich mögen die meisten Menschen die
Klebekunst lieber als Graffiti: v.a. weil sie sie auch besser verstehen
können als Graffiti. Graffiti und Tags sind meist als Szenecode
an andere Sprayer gerichtet. Außen Stehende verstehen die
Schriftzüge und Bilder selten.
Das ist bei den Klebebildern anders?
Ja, sie sind meist unterhaltender für den
Betrachter, man kann über sie schmunzeln, sie sind leichter zu
decodieren. Es gibt aber auch
welche, die ganz traditionell Gesellschaftskritik üben oder
politische Themen aufgreifen: In Wien habe ich eine ganze Reihe
von Cutouts gesehen, die sich mit dem Irak-Krieg auseinander
setzen.
Wer macht diese Klebekunst?
Die Künstler sind nicht so eindeutig einer
Jugendkultur zuzuordnen, wie das bei der Graffiti-Kultur der Fall
ist Graffiti hängen eng mit der HipHop-Kultur
zusammen. Die Klebekünstler kommen zum Teil ebenfalls aus der
Sprayerszene, aber auch traditionelle Künstler, junge Absolventen von
Kunsthochschulen und Politaktivisten zeigen ihre Werke und
Anliegen auf diese Art in der Öffentlichkeit.
Warum macht sich jemand so viel Arbeit, nur um
ein paar Klebebildchen an die Wände anzubringen?
Zuerst einmal: diese Street-Art-Formen sind ein
Geschenk an die Öffentlichkeit, eine Bereicherung des Stadtbildes
abseits der traditionellen Orte der offiziellen Kulturvermittlung.
Natürlich geht es auch bei dieser Form der
Straßenkunst um Ruhm, um Wahrnehmbarkeit aber ebenso um Teilnahme
an der öffentlichen Diskussion und um Mitgestaltung des
öffentlichen Raumes. Die Künstler machen Propaganda für sich
selbst und/oder sie rütteln am Gewissen der Öffentlichkeit. Deswegen ist es ihnen wichtig, ihre Cutouts und Sticker
in vielen verschiedenen Städten, an vielen verschiedenen Orten
anzubringen.
Wo muss man hingucken, wenn man in seiner Stadt
ein Cutout entdecken will?
Bei den Sprayern ging es darum, die Schrift-Bilder an möglichst
gefährlichen Orten anzubringen: auf Zügen oder an Häusern möglichst
hoch oben zum Beispiel. Das ist bei den Cutouts nicht so wichtig,
sie werden dort geklebt, wo sie ins Stadtbild passen oder nutzen
kommunikative Leerräume, wie etwa die Rückseite von
Verkehrsschildern. In Leipzig zum Beispiel haben Künstler
Cutouts für die kaputten Fenster leer stehender Fabriken
entworfen.
Ist es nicht schade für die Künstler, dass
ihre Werke so schnell abgerissen und zerstört werden können?
Meistens dokumentieren die Aktivisten ihre
Werke, in dem sie sie direkt nach dem Ankleben fotografieren und
im Internet zeigen. Ähnlich den Sprayern, die Entwürfe von ihren
Graffiti in einem so genannten »Black Book« sammeln. Und
ebenfalls Fotoalben anlegen.
Müssen wir uns von den Graffiti verabschieden?
Sicher nicht. Es ist einfach eine neue Form zu den schon bekannten Street-Art-Varianten dazugekommen. Affichements, Sticker und
Cutouts sind im Moment sehr im Kommen - die Grenzen zwischen den
verschiedenen Arten sind fließend und es kommen dabei alle bekannten
Techniken zur Anwendung - etwa als Schablonentechnik auf einem
Sticker. Meistens gibt es viele
Nachahmer für eine neue Form der Straßenkunst: Als der Züricher
Sprayer Harald Naegeli Anfang der achtziger Jahre eine neue
Bildsprache entwickelte, lange, dünne Figuren, kamen die in der
Szene so gut an, dass es in kürzester Zeit drei Naegeli-Nachahmer
in jeder europäischen Stadt gab. Je öfter die Cutouts in
unserem Straßenbild auftauchen, umso mehr Leute werden sich
sagen: »Hey, das mach ich auch.«
Siehe dazu die Definitionen der Begriffe
Graffiti (
http://graffitieuropa.org/definition.htm
) und Street-Art (
http://www.graffitieuropa.org/streetart.htm )
Anfrage aus Bonn zum Thema:
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir planen einen Beitrag über die teils liebevoll gestalteten Paketaufkleber, die deutsche Universitätsstädte überfluten. So steht uns eine CD mit 150 Farbaufnahmen Bonner Paketkleber zur Verfügung.
In Bonn fällt in diesem Zusammenhang der Begriff "Art-War". Wenig seriösen Presseberichten zu Folge, soll es sich um einen Protest gegen die legalen Reklametafeln handeln. Hier wird eine Parallele zur belgischen und französischen Anti-Werbebewegung gesucht.
Ist Ihnen der Begriff "Artwar", als ängstliche Variante des Anti-Werbeprotestes bereits untergekommen?
Können Sie dieser Strömung bereits einen Ursprungsort zuordnen?
...
Marie-Curie-Str.8
53125 Bonn
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