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Teil 1: Einleitung, Wiener Graffiti-Archiv und Institut für Graffiti-Forschung, Definition, Geschichte der Graffiti-Forschung, Graffiti-Literatur, ... |
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Die Basis für meine Beschäftigung mit Graffiti ist das Wiener Graffiti-Archiv, das - nach Vorarbeiten seit 1976 - im Jahre 1978 gegründet wurde und heute über 80.000 Bilder aus verschiedenen Erhebungszonen umfasst. Zu Beginn meiner Arbeit stand das Sammeln, Dokumentieren und Archivieren im Vordergrund. Später wurden Auswertungen mit höherwertigen quantitativen und qualitativen empirischen Methoden vorgenommen, auf die ich im Rahmen dieses Referates noch näher eingehen werde. Neben der wissenschaftlichen Dokumentation konzentrierte ich mich in den letzten Jahren auch auf den Bereich der künstlerischen Fotografie, und es erfolgten inzwischen einige Ausstellungen des Materials.
Ab 1994 kam es zu einigen entscheidenden Erweiterungen: |
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Mit der
Entwicklung der Graffiti-Forschung wurde der Arbeitsaufwand, v.a.
im organisatorischen Bereich so groß, dass er für mich alleine nicht
mehr bewältigbar war. Daher gründete ich 1996 gemeinsam mit der
Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin Mag. Susanne
Schaefer-Wiery das Institut für Graffiti-Forschung (ifg). Dieses Institut ist auf Vereinsbasis (e.V., wissenschaftlicher
Verein) organisiert und dient als internationale Dachorganisation der
wissenschaftlich orientierten Graffiti-Forschung. Die wichtigsten
Aktivitäten bisher waren die Konzeption und Organisation der
Wiener Graffiti-Kongresse (1997 und 2006), Graffiti-Ausstellungen anlässlich des europäischen Jahres gegen
Rassismus, eine Vielzahl von Fachreferaten und Vorträgen, Lehrveranstaltungen in den Universitäten Wien und
Graz, die Gründung der graffiti
edition und der Auf- und Ausbau der ifg-website graffitieuropa.org.
Diese Initiative umfasst heute ein Internet-Angebot mit hunderten
Fach-Artikeln und tausenden Bildbeispielen und wird als das
internationale Graffiti-Portal Nr. 1 beim Suchbegriff Graffiti geführt - siehe
dazu google
international. Darüber hinaus wurden die Datenerhebungen weiter fortgesetzt und im Rahmen von Feldforschungen Deutschland, Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Kroatien, Ägypten, Bulgarien, ..., erkundet. Ein weiterer Bereich der Institutsarbeit - nämlich die Beschäftigung mit der Jugendkultur der Writer/Sprayer - konnte in Form von fünf Europa-Workshops für Jugendliche verwirklicht werden. Im Bereich des legalen Zugangs zu Graffiti spielte und spielt das ifg eine wichtige Rolle als Ansprechpartner und Berater von Stadtverwaltungen und Politikern: http://graffitieuropa.org/legalwalls.htm . 2006 kam es zu einer Neugründung des ifg mit verändertem Vorstand. Das Wiener Graffiti-Archiv/Graffiti-Dokumentation Europa besteht neben dem Institut als "Europäisches Dokumentationszentrum Graffiti und Street-Art" autonom weiter, kooperiert aber eng mit dem ifg. Statuten und Antrag auf Mitgliedschaft finden sie als pdf-Dokument auf der ifg-Website. |
Namensgraffito des französischen Dichters RIMBAUD (1854 - 1891) in Afrika, entdeckt bei einer Ägyptenreise des ifg-Vorstandes im Jahre 2000. Klassische Kratz-Ritz-Technik.
Internationale Forschungen - Graffiti-Dokumentation Europa - Nürnberg 2009 |
Graffiti-Forschung - die fortlaufende Dokumentation |
Die Grafik links zeigt die quantitative und qualitative Entwicklung der Datenerhebungen (2006 - 2008) im Rahmen der Längsschnittstudie des Wiener Graffiti-Archivs/ Graffiti-Dokumentation Europa. Die fortlaufenden Dokumentationen erfolgen seit 1976 und reichen bis in die Gegenwart (2013). Beginnend mit SW-Negativen, Color-Positiven und ab 2002 digitalen Daten. Partielle Digitalisierung der historischen Daten erfolgt aus aktuellem Anlass, z.B. für Ausstellungen bzw. für thematisch umrissene Publikationen. |
DefinitionBevor ich weiter über Graffiti berichte, möchte ich zuerst auf die Wortherkunft eingehen und die im Wiener Graffiti-Archiv entwickelte Definition zur Diskussion stellen:
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Zur Herkunft des Begriffs Graffiti - Sgraffitohaus -
abtragendes
Moderne Formen der Graffiti-Kultur - Graffiti auf Trains - oben: Panel, unten: Whole Car - dem klassischen Graffiti-Begriff entsprechend - auftragendes Verfahren - inoffiziell und ungefragt hergestellt
Unten - Street-Art-Variante aus Berlin-Friedrichshain, Umfeld Hausbesetzerszene
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Historisch gesehen begann die wissenschaftliche Beschäftigung mit
Graffiti um 1850 durch Archäologen und Altertumsforscher. Sie begannen,
die inoffiziellen Mitteilungen, die sie bei ihren Ausgrabungen in
antiken Städten fanden, aufzuzeichnen und zu sammeln. 1856 benannte der italienische Archäologe RAPHAELO GARUCCHI in einer
Publikation
diese Schriften und Zeichnungen mit dem Begriff GRAFFITI.
Besondere Bedeutung im deutschsprachigen Raum erlangte die Sammlung Zangemeisters aus Pompeji und Herculaneum, erstmals veröffentlicht im Jahre 1871. Texte daraus wurden im schulischen Lateinunterricht zum Verständnis der Sprache des "gewöhnlichen Volkes" verwendet. Auch heute noch wird die Sammlung von Herausgebern historischer Graffiti-Bände als Fundgrube genützt. So erschien in den 1990er-Jahren ein Buch mit dem Titel "Decius war hier", in dem erneut Teile von Zangemeisters Sammlung wiedergegeben sind. Siehe dazu, Basisliteratur der Graffiti-Forschung: http://www.graffitieuropa.org/literatur.htm
Aktuelle Forschungen werden in verschiedenen antiken Orten durchgeführt, z.B. in Ephesos von österreichischen Archäologen - http://www.dieuniversitaet-online.at/beitraege/news/antike-graffiti-geritzt-nicht-gespruht/10.html |
Retiradenreime, Toilettengraffiti, Klosprüche, Restroom-Graffiti:Ab der Jahrhundertwende erweckten Graffiti auch das Interesse von Volkskundlern. Die bedeutende (in Leipzig erschienene) sexualwissenschaftliche Zeitschrift Anthropophyteia des Wiener Forscher F.S.Krauss enthält frühe Sammlungen von Toilettengraffiti (damals als Retiradenreime bezeichnet) aus Europa und Übersee. Klograffiti, Toilettengraffiti sind nach wie vor laufend Untersuchungsobjekt von StudentInnen verschiedener Disziplinen. Siehe dazu: http://www.graffitieuropa.org/klograffiti.htm |
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Originalgraffito aus dem ehemaligen GESTAPO-Gefängnis, Zeichnung eines Inhaftierten in Köln, ca. 1940 entstanden |
Zu den antiken Inschriften und Zeichnungen und der
Variante der Klograffiti kam als dritter Bereich die Beschäftigung mit
den inoffiziellen und verbotenen Äußerungen von Gefangenen.
Der bekannte
italienische Kriminologe Cesare Lombroso war Pionier auf diesem
Gebiet und stellte eine große Sammlung zusammen - leider verstand er es nicht,
sie richtig zu interpretieren. |
Graffiti und Sprachwissenschaft - auch heute tauchen in Graffiti noch manchmal vergessene oder weitgehend unverständliche Dialekt-Begriffe auf ...
... alle drei Beispiele - Wien 2009
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In den USA beschäftigte sich der Sprachwissenschaftler A.W. Read mit Graffiti und sein Lexikon umgangssprachlicher Ausdrücke, das er in den 1920er und 1930er Jahren bei Reisen im Nordwesten der Vereinigten Staaten zusammenstellte, ist in einer Neuauflage (bei maledicta press) wieder zugänglich. Das Werk hatte großen Einfluss auf die US-amerikanische Graffiti-Forschung, die ab etwa 1960 stark multidisziplinär betrieben wurde, indem sich Pädagogen, Soziologen, Psychologen, und weiter auch Volkskundler und Archäologen mit dem Gegenstand auseinander setzten.
Meinungsforschung und Einstellungsmessung:In
den USA gab es auch erstmals statistisch, empirische Versuche, um
Graffiti für Meinungsforschung und Einstellungsmessung zu nutzen. Dies
hing eng mit der Unzufriedenheit mit den gängigen, meist auf
Fragebögen und Interviews beruhenden "reaktiven" Messungen zusammen, deren Einsatzmöglichkeiten
begrenzt sind. Im Zuge dieser methodischen Auseinandersetzungen
entwickelten sich in den so genannten "non-reaktiven"
Messverfahren alternative Möglichkeiten, die eine sinnvolle Ergänzung
bieten und Fehlerquellen ausschalten sollten. In Europa wurde Ende der 1970er Jahre damit begonnen, Graffiti weiträumig zu dokumentieren - in Gent (Lievens), Brüssel (Avau), Wien (Wiener Graffiti-Archiv) und Kassel (Thiel, Beyer) wurden größere systematische Sammlungen aufgebaut. Etwas später nahm sich dann auch die damalige deutsche akademische Welt des Gegenstandes an, der hervorragende Reader des Sozialpädagogen Müller aus Tübingen (1986) hat auch heute noch einiges an Aktualität. Neben den wissenschaftlich orientierten Forschungen und Sammlungen erschienen in Deutschland Mitte der 1980er-Jahre einige populär aufgemachte und wissenschaftlich wenig informative Sammelbände von Graffiti-Sprüchen im Heyne-Verlag. |
Bisher wurden im deutschen Sprachraum zwei Graffiti-Lexika herausgegeben:
das erste vom Münchner Volkskundler Kreuzer - kulturhistorisch
informativ, sehr auf jugendliches Niveau zugeschnitten und leider nicht
mehr im Handel erhältlich. Das zweite von Bernhard van Treeck -
angeblich ein Facharzt für Psychiatrie mit eigener künstlerischer
Vergangenheit als "Axel Mazurka".
Auch im Internet ist der lexikalische Ansatz inzwischen weit verbreitet
- in diesem Bereich gilt der schöne Toilettenreim aus der Wiener
Universität: "Die Wissenschaft, die ist und bleibt, was einer ab,
vom andern schreibt".
2005 wurde ich als Vertreter der internationalen Graffiti-Forschung damit beauftragt, die Stichworte GRAFFITI und STREET-ART für die Neuauflage der 30-bändigen Brockhaus-Enzyklopädie zu bearbeiten. Erstmals konnte in diesem Zusammenhang der Begriff Graffiti-Forschung in seriösem Umfeld präsentiert werden, ebenso fanden darin die wichtigen Namen und Begriffe der Graffiti-Forschung (Saul Len, Irmela Mensah-Schramm, Axel Thiel, Jose Lodewick, ...) Erwähnung.
Siehe: Text- und Bildbeiträge zu den Stichworten „Graffiti“ und „Street-Art“ in der 30 bändigen Brockhaus Enzyklopädie 2006, 21. Auflage, Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Leipzig. ISBN 3-7653-4100-2
Die Publikationen der graffiti edition nehmen auf die multidisziplinäre Ausrichtung der Graffiti-Forschung Bezug. Ein Bestseller ist seit Jahren der GRAFFITI-READER, 2012 überarbeitet und 2013 als Reprint in der 7ten Auflage erschienen, siehe: http://www.graffitieuropa.org/graffitireader.htm
Das öffentliche Verkehrssystem
ein Forschungsprojekt des ifg
Internationale Dokumentationen - Berlin 2009
Berliner Längsschnittstudie der Graffiti-Forschung - oben (east side gallery - Auftragsarbeit - kein Graffito!!!), erneuert anlässlich des 20sten Jahrestages der Öffnung der Berliner Mauer ... , ... und unten Schablonengraffito aus Friedrichshain:
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Graffiti-Enzyklopädie onlineIm Rahmen der online Enzyklopädie der Graffiti-Forschung, deren Basis die 2001 veröffentlichte Papierversion der Graffiti-Enzyklopädie ist, informiert das Institut für Graffiti-Forschung laufend über alle bekannten und neuen Aspekte der Graffiti-Kultur: http://graffitieuropa.org/enzyklopaedie.htm . Anfang 2013 waren es 13.420 Dateien, organisiert in 472 Ordnern, die kostenfrei und online zugänglich waren. google führte die Website des Instituts für Graffiti-Forschung schon im Jahre 2004, und ab April 2006 neuerlich als die internationale Nummer 1 bei diesem Suchbegriff. Heute wird www.graffitieuropa.org als internationales Graffiti-Portal, mit Hinweis auf die wichtigsten Subseiten, präsentiert.
Europäische Graffiti Union (EGU)Der oben erwähnte Volkskundler (Peter Kreuzer) unternahm in den 1990er-Jahren in München den Versuch, die Writer-Szene überregional zu organisieren und damit eine Interessensvertretung für diese Form der Jugendkultur zu schaffen. Was aus dieser Initiative geworden ist, entzieht sich meiner Kenntnis - medial treten weder Kreuzer noch die EGU in Erscheinung - und heute existieren weltweit unzählige Writer-Crews, auf unterschiedlichen Organisationsniveaus. Unangenehm ernst wurde die Kreuzersche Idee von einer Wiener Sprayergruppe genommen, die unter der Bezeichnung WGU (Wiener Graffiti-Union) eine Monopolstellung beanspruchte und alle anderen Ansätze verdrängen wollte - siehe dazu auch: Graffiti in Wien - http://www.graffitieuropa.org/graffitiwien.htm . Ein wichtiger Beitrag auf dem Gebiet der Writer-Kultur stammt von Susan Farrell und Brett Webb, die mit ihrer Website "art crimes" eine international bestückte Galerie von Pieces und Master-Pieces einrichteten, auf der Informationen über Produkte, Publikationen und events - allerdings hauptsächlich HipHop-spezifisch - weitergegeben werden.
Graffiti und InternetDas Medium Internet ist inzwischen von Graffiti-Homepages überwuchert, die Suche unter dem Begriff Graffiti mit der Suchmaschine google ergab im Jänner 2005 rd. 7.000.000 Treffer, im August 2006 48.400.000, im Dezember 2008 57.300.000 Treffer und im Mai 2012 181.000.000 Treffer. Wer im Internet nach Informationen über Graffiti sucht, kann sich auch auf wenig zweckdienliche Erfahrungen gefasst machen. Wie weit mit dem Begriff Graffiti, abseits seiner eigentlichen Bedeutung operiert wird, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Bei Explorationen im Internet stieß ich auf eine Seite mit dem viel versprechenden Titel "mexican graffiti". Als ich die Seite anklickte, führte der Link auf die Speisekarte eines mexikanischen Spezialitätenrestaurants in Australien. Erfahrungen dieser Art sind alltäglich, es gibt inzwischen Werbeagenturen, Online-Portale, Reinigungsfirmen etc. die man unter diesem Begriff finden kann.
Graffiti und WikipediaVon anonym agierende Autoren der so genannten Internet-Enzyklopädie WIKIPEDIA kam es einige Male zu Kontaktaufnahme und der Bitte um Hilfestellung, ein Beispiel siehe: 2009 - http://www.graffitieuropa.org/news/265.htm Kommunikation mit anonym agierenden Autoren wird grundsätzlich abgelehnt. Inzwischen hat sich im akademischen Bereich die Erkenntnis durchgesetzt, dass viele WIKIPEDIA-Artikel weitgehend nicht zitierfähig/zitierbar ist. Kritische BetrachtungenEinige fachlich fundierte Überlegungen zur Entwicklung der Graffiti-Forschung sowie eine kritische Betrachtung der inflationär auftretenden Graffiti-Forschungswelle unter Studenten finden sie auf der Seite des Graffiti-Vereins Leipzig - http://www.graffitiverein.de/Forschung/FR_Forschung_Geschichte.html . Ob sich jemand tatsächlich mit Graffiti beschäftigt hat, erkennen sie am einfachsten beim Umgang mit der wissenschaftlich üblichen Terminologie - Graffiti - Graffito - Graffiti-Bewegung. Wer mit Graffitti, Graffities, Grafitis, Grafitties, Graffitis etc. aufwartet, hat meistens keine Ahnung worum es geht und keine Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur auf diesem Fach-Gebiet. Eine Kuriosität stellt die seit kurzem zugängliche eu-domaine http://www.grafiti.eu/ dar, wo unter dem völlig unüblichen Begriff "GRAFITI" eine unzureichende Definition sowie eine komplett falsche Sicht der Graffiti-Forschung verbreitet wird. Die Autoren dieses Elaborates bleiben anonym, ebenso die Verfasser des wikipedia-Artikels. |