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Teil 2: Das Wiener Modell der Graffiti-Forschung, Grundlagen der Graffitiforschung, Kollegen und Ansätze, Die Fundorte, Graffitientfernunglast update: April 2018 |
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Graffiti-Forschung als angewandte Wissenschaft
Grundlagen der Graffitiforschung, Feldforschung
Kollegen und Ansätze, die wichtigsten NamenGraffiti-Forschung war in der Anfangszeit meiner Arbeit (1970er-Jahre) eine sehr einsam betriebene Wissenschaft, für die nicht allzu viel Verständnis in der Öffentlichkeit zu finden war. Der erste Kollege im eigentlichen Sinne, den ich um 1980 kennen lernte, war der Sexualwissenschaftler Ernest Borneman, der mich sehr ermutigte meine Arbeit auf diesem Gebiet fortzusetzen und durch den sich im Laufe der Zeit einige Bekanntschaften entwickelten. So unterschiedlich wie die Personen, sind auch die Forschungs-Ansätze, die verfolgt werden: Bornemans Graffiti-Forschung war stark von seiner eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit geprägt. Er nutzte Graffiti zur Verifizierung seiner Theorien über das kindliche Sexualleben und es gibt dazu einige bemerkenswerte Publikationen von ihm. Axel Thiel - Graffiti-Archiv Kassel: Axel Thiel begann etwa um die selbe Zeit wie ich (1970er-Jahre) mit seinen Forschungen. Es gab jahrzehntelang lebhaften Austausch im Zuge der gemeinsamen Arbeit in der "international working-group on graffiti-research". Thiel gründete einen Graffiti-Fachverlag und baute in Kassel im Namen der Arbeitsgruppe Graffiti ein Archiv auf, das v.a. von Studenten genützt wurde. Methodische Differenzen führten dazu, dass sich Thiel Mitte der 1990er-Jahre von der empirischen Graffiti-Forschung abspaltete. Er verlagerte seine Aktivitäten immer mehr ins Internet und in den englischsprachigen Raum. Es war ihm nicht vergönnt, mit seiner Arbeit die angestrebte akademische Anerkennung zu erlangen, Thiel verstarb 2006 im Alter von 61 Jahren. Was aus den brauchbaren Teilen des Bestandes in Kassel wurde, entzieht sich unserer Kenntnis, juristisch betrachtet gehören die Archivbestände den Mitgliedern jener Arbeitsgruppe, in deren Namen er die Bestände zusammentrug. Im Internet sind noch Fragmente seiner Arbeit zu finden. Eine objektive Beurteilung des vielfältigen Engagements Axel Thiels ist am ehesten beim Studium der rd. dreißigbändigen "EINFÜHRUNG IN DIE GRAFITTI-FORSCHUNG", erschienen in seinem Eigenverlag (AXEL THIEL VERLAG), möglich. Eine Gesamtausgabe seiner Arbeiten befindet sich im Bestand des Wiener Graffiti-Archivs und kann bei juristischen oder urheberrechtlichen Fragen eingesehen werden. Einen Nachruf finden sie auf: http://www.graffitieuropa.org/news/168.htm
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Archivierungstechnik des
belgischen Forschers |
Es beschäftigen sich international inzwischen so viele kompetente Leute mit Graffiti, dass alleine eine Zusammenstellung der wichtigsten Ansätze ein Buch füllen würde. Neben der Datenerhebung gibt es das Problem der Zugänglichkeit, der Daten, der Archivierung zu lösen. Eine einheitliche Lösung dafür hat sich - so wie bei anderen Datensammlungen auch - bisher nicht durchgesetzt. Je nach technischen Möglichkeiten, Kenntnissen der Computertechnologie und Art des Datenmaterials lösen Dokumentaristen dieses Problem unterschiedlich. In den Bildern links bietet Herr Lodewick aus Brüssel einen kleinen Einblick in seine (digitalisierte) Sammlung. Wir werden demnächst auf einer Subsite genauere Daten zur Verfügung stellen. Wichtige Artikel zu Graffiti finden sie auf http://graffitieuropa.org, hier einige Namen, die Erwähnung verdienen: Stefan Lievens (Gent), Roger Avau (Brüssel), Reinhold Aman (USA), Fritz Pichler (Südtiroler Graffiti-Archiv), Jose Lodewick (Belgien), Franz Mandl (Österreich, Felsgraffiti-Archiv), Susan Farrell (USA), Dieter Schrage (ifg-Mitglied, Wien), Werner Hollender (Österreich), Luc Bucherie (Frankreich), Carolin Steinat (Deutschland), Monika Vykoukal (Österreich), Detlev Kraack (Berlin), Karl Herbert Mayer (Graz, Graffiti der Maya-Kultur), Jürgen Beyer (Fotosammlung: Graffiti in Kassel), Norbert Schnitzler (Graffiti-Archiv mit Bildern aus diversen deutschen Städten), Nicholas Ganz (Internationales Writing Archiv), Dessislava Terzieva (bulgarisches Graffiti-Archiv), Johannes Tichy (Graffiti-Dokumentation international), ... |
Die Frage, wo man Graffiti findet, könnte man am besten mit "überall" beantworten. Hier eine kleine Fundorttypologie, in welcher die Vielfalt an möglichen Trägerflächen angedeutet wird:
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Grundsätzlich kann man dabei in
stationäre und mobile Flächen unterteilen, die im inside- oder
outside-Bereich liegen. Einige davon möchte ich kurz erwähnen: Entsprechend der Methodik bei größer angelegten Erhebungen orientiere ich mich zuerst v.a. am öffentlichen Verkehrsnetz, wo es viele unterschiedliche Flächen gibt. So sind die großen Pieces der Sprayer meist entlang der Hauptverkehrslinien, manchmal auch an den Fahrzeugen selbst, zu finden. Anders sind die Graffiti in Warteräumen, auf den Bahnsteigen oder in den Toiletten geartet. Liegen Stationen im Bereich von Schulen, so findet man dort sehr viele altersspezifische Aussagen, meist zum Thema Liebe, aber auch zu aktuellen Stars aus der Film- und Musikszene. Geht man von gruppenspezifischen Graffiti aus, so sind z.B. Touristengraffiti v.a. an jenen bekannten Sehenswürdigkeiten zu finden, die in den Reiseführern erwähnt werden, Graffiti von Fußballfans in der Nähe der großen Stadien. Auch hier, wie überall im Bereich Graffiti, determiniert die architektonische Möglichkeit die Anzahl der Hinterlassenschaften. Finden kann man Graffiti sowohl im Münchner Hofbräuhaus (dort in die klobigen Holztische geritzt), an der Siegessäule in Berlin, im Aufgang des Völkerschlacht-Denkmals in Leipzig, in den Türmen des Wiener Stephansdomes und in der Kuppel des Petersdoms, ... Eine spezielle Untergruppe - die Wallfahrer - hinterlässt ihre Bitten oft in den bekannten Kirchen, z.B. in Mariazell, Lourdes, Santiago de Compostella oder an Wänden im Vatikan. Will man diese Botschaften dokumentieren, muss man bedenken, dass dazwischen - meist in der "toten Saison" - Übermalungen stattfinden, denen die Graffiti zum Opfer fallen, und dass es dann oft längere Zeit dauern kann, bis wieder Inschriften vorhanden ist. Andere klassische Orte der Graffitiproduktion sind öffentliche Parks, wo jede erdenkliche Fläche zum Träger einer Inschrift werden kann - Bänke, Tische, Mistkübel (Mülleimer), Bäume... Hier findet man auch oft die formal sehr reduzierten Baumritzungen, ein Graffitimotiv, das über Franz Schubert Einzug ins klassische Liedgut hielt. Orte sehr spezieller Graffitiproduktion können auch Prostituiertenstandplätze sein, wo manchmal mangels anderer Kommunikationsmöglichkeit Nachrichten von Verehrern zu finden sind. Bei meinen Forschungen begegneten mir Graffiti bis ins unterirdische Wien, wo Kanäle gelegentlich Aufenthaltsort von Obdachlosen sind. Sorgfältige Untersuchungen solcher schwer zugänglicher Orte erfordern einen großen Arbeitsaufwand und die Ergebnisse sind oft nur von begrenztem wissenschaftlichem Interesse und dienen eher der Dokumentation.
Leichter zugänglich
sind z.B. Bauhütten. In dieser reinen Männerkultur der Bauarbeiter
trifft man oft Graffiti mit stark sexueller Komponente an, ebenso in
öffentliche Toiletten, die manchmal als eine Art "schwarzes
Brett" für sexuelle Anliegen fungieren. Zu letzterem gibt es
einige Untersuchungen im Rahmen des Archivs. Die Studie über
"Häufigkeiten, thematische Inhalte und geschlechtsspezifische
Kommunikationsmuster" wurde aus methodischen Gründen an Graffiti
aus Universitätstoiletten durchgeführt. In Toiletten gibt es, neben
den schon erwähnten Themen, auch sehr viele ortsspezifische Sprüche
(z.B.: "In fünf Minuten wird geschissen, wer länger scheißt wird
rausgeschmissen", oder "Das ist der Ort an dem man scheißt,
was man am Tag zuvor gespeist. Zum Glück, dass wir nicht speisen
müssen, was wir am Tag zuvor geschissen"). Die Tradition solcher
Sprüche ist alt, manche davon sind gleichlautend überall im deutschen
Sprachraum zu finden, ebenso ist das Eindringen von Sprüchen aus dem
angloamerikanischen Raum zu beobachten. |
War die Graffitibeseitigung im öffentlichen Raum bis vor kurzem
noch Aufgabe von
konventionellen Reinigungstrupps der Stadtverwaltungen, drängten mit
der explosionsartigen Verbreitung der Sprayer-Kultur und der so
genannten Street-Art-Aktivisten immer häufiger
spezialisierte Unternehmen auf den Markt. Heute ist Gebäudereinigung
ein florierendes Gewerbe, in das enorme finanzielle Mittel fließen und wo modernstes technisches know how zum Einsatz kommt.
Das reicht
von Anti-Graffiti-Beschichtungen an Außenwänden, über Sandstrahlgebläse bis hin zum Einsatz von Laserkanonen, mit denen
unerwünschte Farbschichten "wegradiert" werden können. Bei
Recherchen in München im Jahre 1997 begegnete Frau Schaefer-Wiery und
mir in einer
Zeitungsnotiz erstmals die Mitteilung, dass es ein Unternehmen gibt,
das Hausbesitzern "Graffiti-Versicherungen" anbietet. Heute
ist dies eine Selbstverständlichkeit - hier ein Überblick
über die Angebote. Der ganz große Gewinner an der Writer-/Sprayer-/Street-Art-Bewegung ist und bleibt die Farbenindustrie, die spezielle Spraydosen mit deklariertem "Graffiti-Lack" anbietet und gleichzeitig Mittel zu dessen Übermalung, Beseitigung oder Verhinderung produziert. Auch diverse Geschäftemacher treten unter dem Begriff Graffiti in Erscheinung und versuchen ihre Produkte einer meistens uninformierten Öffentlichkeit schmackhaft zu machen. |
Angebot einer Wiener Firma
- Graffitientfernung - dokumentiert |
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